Samstag, 23. Oktober 2010

Mädchen mit Zöpfen

Eine Kurzgeschichte von Julia Christ



Lieben Sie Soho? Mögen Sie Greenwich Village? Dann sind Sie bestimmt auch ganz angetan von der Kastanienallee in Berlin. Prenzlauer Berg. Natürlich. War ja klar. Sie wissen ja: Dort, wo die Leute, die gegen den Strom schwimmen, zuhause sind. Die Künstler und die Intellektuellen, die Schriftsteller, die Schauspieler und all die anderen Überlebenskünstler. Vergessen Sie Paris, London oder New York City, vergessen Sie den ganzen etablierten Kram. Gehen Sie stattdessen zur Kastanienallee. Sie werden sehen, dieser Kiez einfach Ihr Ort.

Ganz gleich, ob Sie die Gegend als Tourist oder Einheimischer kennen, achten Sie doch mal auf die jungen Frauen dort. Sehen Sie zum Beispiel die da? Ja, richtig das Mädchen auf der anderen Straßenseite. Das mit den hohen Lederstiefeln und den langen, geflochtenen Zöpfen. Rattenscharf sind sie, diese Zöpfe, finden Sie nicht auch? So lang, dass sie die Kleine schon in der Poritze kitzeln. Und schwarz sind sie, rabenschwarz. Bemerken Sie auch Rapunzels stolzen Gang? Wie der einer Königin. Okay, okay, manchmal schlendert sie auch nur, so wie eine Nomadin. Wahrscheinlich ist sie eine der vielen Studentinnen der Gegend, vermuten Sie. Sie wird Kunstgeschichte, vielleicht aber auch Sprachen studieren. Nur keine Naturwissenschaften und BWL schon gar nicht. Die Studentin überquert die Oderberger Straße, stiefelt über das holprige Pflaster, sie passiert ein Straßencafe nach dem anderen. Es ist Frühling, und die Kastanienbäume blühen.

Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz – das kann nur eine Kolorierung sein

Das Mädchen passiert die Schwedter Straße, kommt am kleinen Thai-Imbiss vorbei, und die Sonne lässt seine Zöpfe an diesem Tag besonders intensiv glänzen. Fast blauschwarz schimmert es, das Haar, fast wie bei einer Inderin. Wahrscheinlich gefärbt, werden Sie jetzt denken und wahrscheinlich haben Sie Recht. Das Gesicht weiß wie Schnee, die Lippen rot wie Blut und das Haar schwarz wie Ebenholz – das kann nur eine Kolorierung sein. Sehen Sie sich unser Schneewittchen nur genauer an. Keine Hemmungen, kommen Sie ruhig rüber auf die andere Straßenseite. Falls die Kleine Sie bemerkt, wird sie sich vielleicht umdrehen und Sie mit ihrem Julia-Roberts-Lächeln bezaubern. Sie werden an ihren Lippen kleben, das verspreche ich Ihnen. Überhaupt: diese Lippen - wie bei Mick Jagger. Doch die Studentin bemerkt Sie gar nicht, sie ist viel zu sehr in Gedanken versunken.

Und dann, kurz vor der Zionskirche, da, wo die Tram rechts abbiegt, da macht das Mädchen plötzlich Halt. Steht vor einer Bar, die zugleich ein Straßencafe ist: das 103. Die Menschen, die dort draußen sitzen, tragen immer noch Sonnenbrillen, obwohl sich der Himmel längst zugezogen hat. Unsere Studentin hat gerade noch den letzten freien Platz ergattert. Sicher wartet sie jetzt auf ihre Freundinnen. Oder auf ihren Freund, ganz bestimmt wartet sie auf ihren Liebsten dort. Wahrscheinlich einer aus der Medienbranche, er wird Journalist, Werbetexter oder Designer sein. Der Kellner bringt ihr einen Latte Macchiato. Aber sehen Sie mal, wie viel Zucker sie in ihr Getränk schaufelt – was für eine Zuckermaus.

Vielleicht sollten Sie sich zu ihr an den Tisch setzen.

Und da: Jetzt scheint sie den Kellner in ein Gespräch zu verwickeln. Aber was ist denn das? Sehen Sie, wie ihre Schultern nach vorne fallen, wie sie in sich zusammensinkt, wie sich ihre Mundwinkel tief nach unten graben, so, als seien sie schon immer dort beheimatet gewesen? Das Julia-Roberts-Lächeln ist wie wegradiert, der Glanz in ihren Augen erloschen. Ein grauer Schleier liegt mit einem Mal auf dem stark gepuderten Gesicht. Bestimmt wird gleich jemand kommen. Ganz bestimmt. Es wird jemand kommen, der ihre Sehnsucht stillt, jemand, der sie in den Arm nimmt, jemand, der einfach zu ihr gehört. Und alles, alles wird gut. Und siehe da, jetzt nähert sich ihr auch schon ein junger Mann. Aber es ist nur der Kellner, der ihr einen Espresso serviert.


Vielleicht sollten Sie sich zu ihr an den Tisch setzen. Sie wird Sie ganz bestimmt nicht abweisen. Machen Sie ihr ein intelligent klingendes Kompliment, es braucht nicht ehrlich zu sein, und Sie werden sehen: Der Blick der Studentin wird nicht von Ihnen weichen. Machen Sie ihr falsche Versprechungen, er seine Midlife-Crisis ganz gut überwunden. Oder Fillippo, der brasilianische Musiker. Zwischen seinen Auftritten geht er hin und wieder ganz gerne mit der Kleinen ins Bett. Oder Lukas, kurz und schmerzlos war er für ihn, der One-Night-Stand mit der bezopften Studentin. Ein weiterer Espresso kommt. Diesmal mit Grappa, mit extra viel Grappa darin.

Unter 500 Gramm ist eine Bestattung nicht möglich.

Sorgen brauchen Sie sich jetzt aber nicht um die Kleine zu machen. Sie ist das Warten gewohnt, es ist ihr treuer Begleiter, genau wie die Einsamkeit. Es ist wie ein geschmacklos gewordener Kaugummi, man kann ewig auf ihm kauen. Vielleicht sollten Sie sich jetzt einfach zu ihr setzen. Jaah, so ist es gut! Wie bitte? Sie haben sich die Kleine etwas anders vorgestellt? Irgendwie jünger? Sie glauben nicht, dass sie Studentin ist? Naja, sie wird wohl Langzeitstudentin sein, oder!? Vielleicht ist sie aber auch schon längst zwangsexmatrikuliert. Oops, jetzt steht sie auf und geht. Los, los, hinterher.

Aber was ist denn das? Redet die Kleine etwa mit sich selbst? Tatsächlich: Sie führt Selbstgespräche. Murmelt Namen wie ein Mantra: Leon und Louisa, Yannik, Amelie und Silvio. Alle hätten ihre Kinder sein können. Stattdessen aber: Abbrüche. Wieder und immer wieder. Beim letzten Mal hat es besonders lange gedauert. Fünfzig Stunden, das macht zwei Tage und zwei Nächte. Eine Geburt musste künstlich eingeleitet werden, da es in der 13. Schwangerschaftswoche für die übliche Ausschabung zu spät war. Doch der Fötus wollte einfach nicht rauskommen. Mehr als zwei Tage hat es dann gebraucht, bis er dann doch kam. Wie bitte? Das irritiert Sie jetzt? Nicht doch, nicht doch.

Auf alle Fälle hatte das Mädchen mit den Zöpfen beim letzten Mal noch einen Wunsch. Es hat die Ärzte gefragt, ob sie ihr Kind beerdigen könne. Nein, das geht nicht. Das geht ganz und gar nicht. Unter 500 Gramm ist eine Bestattung nicht möglich. Wir werden es schon entsorgen. Wenn Ihnen unbedingt etwas daran liegt, können Sie es auch symbolisch begraben. Symbolisch? Der Blick des Mädchens verschwimmt in der Ferne. Es muss an einen einen Friedhof für abgetriebene Föten gibt. Japanische Frauen kommen dort hin und hinterlassen dort kleine Püppchen, Teddybären und Geschenke.

Das Mädchen mit den Zöpfen geht die Kastanienallee entlang. Rattenscharf sind sie, diese Zöpfe. So lang, dass sie es schon in der Poritze kitzeln. Und schwarz sind sie, rabenschwarz. Wahrscheinlich kennen Sie die Kleine schon, sie schlendert täglich dort lang. Sie ist immer da. Nur manchmal, wissen Sie, manchmal träumt sie davon weg zu gehen. Weg von der Kastanienallee, weg von Berlin. Bis nach Japan. Vielleicht. Irgendwann vielleicht.

Copyright / Foto und Text: Julia Christ

Mittwoch, 20. Oktober 2010

Können deutsche Männer flirten?

Mit Tour de Franz hat die Französin Cécile Calla ein amüsantes Buch über die Eigenarten der Deutschen geschrieben. 

Von Julia Christ




Wer als Frau dieses Buch liest, wird die Welt hinterher mit anderen Augen sehen. Zum Beispiel die Berliner Bauarbeiter. Man wird plötzlich überlegen, ob man vielleicht lieber an Baustellen flanieren als auf Partys gehen soll, um Prince Charming zu begegnen. Man wird plötzlich genauer hinhören, wenn die Freundin der Freundin einen neuen Lover hat, der wieder einmal entweder Spanier, Franzose oder Algerier ist. Alles, nur kein Deutscher.

Man wird Auswanderungs-, zumindest aber Reisepläne schmieden. Man wird bei der nächsten neuen Verabredung mit einem Landsmann von vorne herein schon auf Stand-by-Modus schalten und sich auf den Beginn einer platonischen Freundschaft freuen. Alles andere wird sowieso nicht passieren.


Der deutsche Mann: quadratisch, praktisch, gut

Quadratisch, praktisch, gut – wird man von den deutschen Männern denken. Und dabei ein bisschen gähnen. Man hat es schon immer geahnt. Jetzt hat man es schwarz auf weiß: Die deutschen Männer sind wenig prickelnd und kaum charmant, dafür aber respektvoll. Typen, mit denen man Pferde stehlen kann. Wer aber flirten oder sich gar als Frau fühlen will, sollte sich die Söhne anderer Mütter suchen.

Diesen Eindruck bekommt man, wenn man das Buch der französischen Journalistin Cécile Calla Tour de Franz – Mein Rendevous mit den Deutschen liest.


Das, was die in Berlin lebende Französin über Deutschland und die Deutschen schreibt, liest sich im Kapitel Flirten etwa so:

„Mit den Blicken der deutschen Männer fangen die Probleme an. Gucken sie überhaupt, dann betont unauffällig. Daran ändert auch ein kurzer Rock oder ein figurbetontes Kleid nichts. Niemand pfeift einem hinterher, macht Komplimente oder einen anderen Annäherungsversuch. Manchmal denke ich, dass ich nackt durch die Straßen laufen müsste, damit jemand reagiert. Inzwischen bin ich so weit, dass ich ganz aus dem Häuschen bin, wenn mich ein Bauarbeiter ein bisschen intensiver ansieht.“

Das also zu den Bauarbeitern. Doch die gebürtige Pariserin  schreibt nicht nur über Liebe, Männer und Frauen, sondern auch über die ein oder andere Eigenart der Deutschen. So etwa über ihre Passion für Bioläden, Italien und das Tatort-Gucken am Sonntagabend. Auch die Differenzen von Mode und Kochkunst beschreibt sie amüsant. Ja, selbst den Karneval in Köln mit dem Blick von außen knöpft sich Cécile Calla vor.

Grautöne des deutschen Alltags

Das meiste liest sich kurzweilig, leichtfüßig und mit einem Augenzwinkern. Aber je weniger die Berlin-Korrespondentin der französischen Tageszeitung Le Monde von Liebe, Flirt und dem Techtelmechtel der Geschlechter erzählt, je mehr sie Themen wie Spargel, Sparsamkeit und das Steuersystem anschneidet, desto weniger will man davon wissen. Schließlich kennt man Grautöne des deutschen Alltags selbst schon viel zu genau. Das will man nicht auch noch lesen müssen.

Unterm Strich aber macht es Spaß, in diesem Buch zu schmökern. Vor allem weckt es Fernweh. Und Neugier auf eine Lebensart, die man westlich und nicht östlich des Rheins findet.

 
Junge Frauen im Pariser Stadtteil Montmatre (2)



 Interview

Ein sonniger Mittag in Berlin, Prenzlauer Berg. Wir treffen Cécile Calla in einem italienischen Restaurant. Sie ist mit dem Fahrrad gekommen, in Jeans, einem sportlichen Blazer und Turnschuhen. Darin sieht sie kaum parisienne,  dafür aber sehr berlinerisch aus.


Frage: Madame Calla, Sie schreiben in Ihrem Buch auch über den deutschen Mann und sein Flirtverhalten. Können deutsche Männer überhaupt flirten?


Hmm (lacht)… nicht so richtig, oder?! Als Frau hat man in Berlin ein anderes Gefühl, wenn man über die Straßen geht. In fünf Jahren bin ich auf der Straße oder in U-Bahn nur dreimal von einem Mann angesprochen worden. Hier habe ich oft das Gefühl, in einer asexuellen Welt zu leben. In Frankreich hingegen ist Flirten ein Volkssport. Es wird geflirtet, was das Zeug hält - überall. Klar ist es manchmal auch anstrengend, aber es macht das Leben aufregender, es macht den Alltag sehr sinnlich. In Frankreich hat eine Frau einen besonderen Bonus. Hier ist sie einfach nur ein Mensch.


Frage: Hat das auch Vorzüge?


Klar. Als Frau fühlt sich als in Berlin ernst genommen. Man ist hier nicht das kleine, beschützenswerte Ding. In dieser Stadt kann man mit kurzem Rock über die Straße gehen, und keinen interessiert das.


Frage: Und wie ist die Berlinerin? Welchen Stil verkörpert sie?


Die Menschen in Berlin sind sehr offen und nonkonformistisch. Das drückt sich auch in der Kleidung aus. Die Menschen und ihr Kleidungsstil sind sehr viel unterschiedlicher, gleichzeitig mehr casual, sportlicher. Die Pariserin hat eher einen einheitlichen Stil: meist schwarz und mit den hohen Absätzen. Die Berlinerin hingegen kombiniert problemlos eine Pyjamahose aus den 70ern mit Stiefeln, einen Wollpulli und einer Lederjacke. Sie hat keine Angst, angeguckt zu werden.


Frage: Wo ist Berlin sehr deutsch und wo ist die Stadt sehr international?


Ich kann nur über die Stadtteile reden, die ich kenne. Da finde ich zum Beispiel Mitte sehr international. Prenzlauer Berg, wo ich wohne, finde ich auch sehr kosmopolitisch. Andererseits entwickelt sich Prenzlauer Berg zunehmend zu einem reichen und spießbürgerlichen Viertel. Die Nachbarn fordern einen auf, wegen der Kinder leiser zu sein. Die Mentalität verändert sich zusehend. Bald ist Prenzlauer Berg wie ein Viertel von München.


Das Interview führte Julia Christ .
Foto (1): Deutscher Bundestag
Foto (2): Julia Christ

Renzension und Interview sind im Tempelhofer Prisma erschienen.